Ereignisse

Explodiert über dem Sihlsee

Die Maschine mit dem Kennzeichen HW-V war bei einem Angriff auf Augsburg schwer beschädigt worden. Die Crew brachte den Bomber noch über den Sihlsee. Dort explodierte er.

Die Wrackteile der Lancaster und der Do-17 liegen nahe beieinander auf dem gefrorenen Sihlsee.

Im Vordergrund das Trümmerfeld der ND595 und im Hintergrund eine Dornier Do-17, die bereits am 13.11.1940 abgestürzt ist.

Die Gegend rund um den Sihlsee in der Nähe der Klosterstadt Einsiedeln im Kanton Schwyz gilt auch heute noch als ruhig und idyllisch. Einmal jedoch, in einer bitterkalten Februarnacht des Jahres 1944, explodierte ein schwer beschädigter britischer Lancaster-Bomber über dem Sihlsee. Obwohl das zwischen München und Ulm gelegene Augsburg relativ viel wichtige Rüstungsindustrie beherbergte, so unter anderem die Messerschmitt und die MAN-Werke, war diese bayrische Stadt bislang von der Royal Air Force unbehelligt geblieben. Dafür richtete der Grossangriff in der Nacht vom 25. zum 26. Februar 1944 unvorstellbare Zerstörung an. Für die Briten wurde er zu einem Grosserfolg, bot die sternenklare Nacht doch ausgezeichnete Zielmöglichkeiten.

Eines der wenigen grösseren Teile. (102_2)

Eines der wenigen grösseren Teile. (102_2)

Der ganze Angriff war in zwei Wellen unterteilt. Die ersten 248 Bomber warfen zwischen 22.39 und 22.51 Uhr ihre tödliche Last mit grosser Präzision über der Stadt ab. Die zweite Welle, welche eine mehr nördliche Anflugroute über die Niederlande benützt hatte, warf zwischen 1.13 und 1.21 Uhr ihre Bomben in die von Bränden erleuchtete Stadt. Insgesamt erreichten 507 Maschinen ihr Ziel, das waren 85,3% der gestarteten Maschinen. Der Verlust beider Verbände zusammen betrug ganze 21 Maschinen, gemessen am Erreichten ein ausserordentlich niedriger Preis für die Royal Air Force. Die mehr als 2000 Tonnenbomben richteten unvorstellbare Zerstörung an. Das Industrieviertel wurde arg in Mitleidenschaft gezogen, darunter auch die MAN-Werke, grösster Hersteller von Dieselmotoren im „Dritten Reich“. Auch eine Zulieferfirma der Messerschmitt-Werke wurde stark beschädigt. Praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde auch der Stadtkern von Augsburg. Dabei wurden 2920 Häuser ganz und weitere 5000 teilweise zerstört. Etwa 90’000 Einwohner verloren bei diesem einen Angriff ihr Obdach. Mehr als 700 Personen fanden beim Bombardement den Tod. Die klirrende Kälte von -18 Grad trug ebenfalls zum Holocaust bei. Aus dem gefrorenen Lech-Fluss konnte kein Wasser entnommen werden. Die meisten Pumphäuser waren vereist und versagten ihren Dienst, was die Löscharbeiten praktisch verunmöglichte. So wurden viele historisch wertvolle Gebäude der Altstadt ein Raub der Flammen. Sechzehn Kirchen und elf Spitäler wurden ebenfalls mehr oder weniger stark beschädigt. Der Sachschaden bezifferte sich auf 800 Millionen Reichsmark.

Die Flugroute der Lancaster bis zum Absturz auf den Sihlsee. (103_1)

Die Flugroute der Lancaster bis zum Absturz auf den Sihlsee. (103_1)

So erfolgreich der Angriff auf die Industrie auch war, führte er doch wegen der totalen Zerstörung von unersetzlichem Kulturgut auf der britischen Insel zu erbitterten Kontroversen. Zu den 304 in England gestarteten Bombern der zweiten Welle gehörten auch die Maschinen der No. 100 Squadron aus Grimsby. Diese mit Avro Lancaster Mk. I und Mk. III ausgerüstete Einheit wurde während des Ersten Weltkrieges als Nachtbombergeschwader formiert und gelangte ab März 1917 zum Einsatz in Frankreich. Im Dezember 1933 wurde die Einheit in den Fernen Osten versetzt und Anfang 1942 von den überlegenen japanischen Streitkräften praktisch vollständig aufgerieben. Am 15. Dezember 1942 erfolgte eine Neuaufstellung in Grimsby mit Lancaster-Nachtbombern. Die No. 100 Squadron flog als Teil der No. 1 Group praktisch während des ganzen Krieges von dieser Basis aus Einsätze. Sie verlegte erst am 1. April 1945 nach Elsham Wolds. Diese Geschichtsträchtige Einheit operiert heute von Marham aus. Am Angriff auf Augsburg war auch die praktisch neue Lancaster Mk. III mit der Werknummer ND 595 beteiligt. Diese Maschine war bei Avro in Manchester gebaut und am 11. Februar 1944 der No. 625 Squadron zugeteilt worden, welche den viermotorigen Bomber aber schon einen Tag später der No. 100 Squadron weitergab, die der Maschine das Verbandskennzeichen HW-V aufschablonierte. Bis zum Augsburg-Raid hatte die ND 595 lediglich 23 Flugstunden absolviert. Die Maschine war also nicht einmal zwei Wochen bei der No. 100 Squadron im Einsatz, als sie in den frühen Morgenstunden des 26. Februar 1944 von der Inventarliste dieser Einheit gestrichen werden musste.

Eine Lancaster der No. 100 Squadron in Grimsby. Unter dem Rumpf ist die Verkleidung des H2S Radargerätes sichtbar. (104_1)

Eine Lancaster der No. 100 Squadron in Grimsby. Unter dem Rumpf ist die Verkleidung des H2S Radargerätes sichtbar. (104_1)

Auf ihrer letzten Mission wurde die Lancaster von der folgenden Besatzung geflogen: Pilot Officer George J. Smith, Bombenschütze Pilot Officer John Benson, Navigator Flight Officer Basil Medcalf, Bordmechaniker Sgt. Andrew Beevers, Funker Sgt. Eric Hiley sowie die Schützen Flight Sgt. Ronald Carr und Sgt. Arthur Truscott. Der Pilot Alistair Crowley-Smith erinnert sich: Unsere Besatzung kam Ende 1943 zur No. 100 Squadron und wir flogen zusammen zwölf Einsätze, sieben Mal nach Berlin, die anderen Ziele waren Magdeburg, Braunschweig, Leipzig, Stuttgart und Schweinfurt. Da meine mir sonst zugeteilte Maschine mit dem Verbandkennzeichen HV-T gerade einem Motorenwechsel unterzogen wurde, musste ich mich nach einem Ersatz umsehen. So übernahm ich also diese ganz neue Lancaster von einem Piloten, welcher diesen Augsburg-Einsatz nicht fliegen musste. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie er mir einschärfte. „Und bitte trage Sorge zu diesem wunderschönen neuen Flugzeug“.
Alistair Crowley-Smith über die Mission: In der Nähe von Freiburg wurden wir ziemlich bös von der deutschen Flab getroffen. Ein Teil der Steuerflächen wurde weggeschossen, ein Triebwerk versagte den Dienst, und zu allem Übel brach noch Feuer aus. Unser Bombenschütze Jack Benson in der Bugkanzel war schwer verletzt und verlor nach kurzer Zeit das Bewusstsein. Wir wussten, dass wir recht nahe der Schweiz waren, hatten aber die exakte Orientierung verloren. Als Jack Benson das Bewusstsein wieder erlangte, gab ich Befehl zum Verlassen der Maschine. Es war mir wegen der Beschädigungen praktisch unmöglich, die Lancaster noch sicher unter Kontrolle zu halten. Den verletzten Bombenschützen Benson kleideten wir in seinen Fallschirm ein und warfen ihn über Bord, nach einiger Zeit öffnete sich der Fallschirm. Der Bomber verlor schnell an Höhe, und als Kommandant war ich natürlich der Letzte, welcher die Maschine verliess. An den Sprung selbst kann ich mich nicht erinnern, aber ich fand mich dann in einem halben Meter hohen Schneewall wieder – ohne meine Fliegerstiefel.

Nur wenige grössere Strukturteile, darunter ein Merlin-Motor blieben auf der Eisdecke des Sihlsees zurück. (104_2)

Nur wenige grössere Strukturteile, darunter ein Merlin-Motor blieben auf der Eisdecke des Sihlsees zurück. (104_2)

Die führerlose Lancaster explodierte wenig später in etwa 1500 Meter Höhe in der Luft. Wahrscheinlich montierten die Flügel wegen Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit ab, diese Fluglage hatte vermutlich die Explosion der Bomben bewirkt. Die gewaltige Detonation zerriss den Bomber in tausend kleine Stücke, welche kaum mehr als einen Meter gross waren. Die Teile schlugen auf dem zugefrorenen Sihlsee auf. Nur einige massive Trümmer wie die Motorenblöcke durchschlugen dann auch die Eisdecke. Die Tageszeitung „Einsiedler Anzeiger“ berichtete zwei Tage später über dieses Ereignis wie folgt: Der Explosionsvorgang, der sich unsagbar rapid abwickelte, beleuchtete die ganze Gegend für wenige Sekunden taghell. Die vollständig zerstörte Maschine fiel in einem einzigartigen illuminierenden Sprühregen auf die etwa 50cm dicke Eisdecke nieder. Die Wirkung der Explosion mit der unmittelbar darauf folgenden Druckwelle war so heftig, dass die Leute im Bett unsanft hin und her geworfen wurden, dass Möbel förmlich schwankten und ganze Häuser vibrierten. Im Umkreis von bis zu 1500m wurden Scheiben und teilweise sogar Türen eingedrückt. Das Aufblitzen der krepierenden Maschine war sogar im Gebiet des Zürichsees deutlich wahrnehmbar, und der mächtige Knall schien von einem fernen Erdbeben herzurühren.

Pilot Officer Smith fährt fort: Nachdem ich mir eine Zigarette angezündet hatte, griffen mich einige ältere Schweizer Soldaten auf, welche sehr freundlich zu mir waren und mich über die Brücke zum Restaurant Rössli brachten, wo ich in Decken gewickelt wurde und heissen Tee bekam. Zwei weitere Besatzungsmitglieder landeten in Willerzell und Euthal, sie wurden ebenfalls ins Rössli gebracht. Ein Teil der Besatzung verliess den Bomber schon früher und wurde in Bäretswil und Hinwil im Zürcher Oberland sowie in Altendorf am Obersee von Schweizer Soldaten aufgegriffen. Vorerst vermisst blieb der Bombenschütze Jack Benson, er wurde am 29. Februar an einer Tanne hängend von Wanderern entdeckt, Bei der Landung hatte er sich schwere Brüche zugezogen und konnte sich nicht aus dem Fallschirm befreien. Starker Blutverlust und die Kälte führten noch in der gleichen Nacht zum Tod. Am Sihlsee wurden in dieser Nacht Temperaturen von Minus 26 Grad gemessen. Jack Benson wurde auf dem Friedhof von Vevey im Beisein seiner Besatzung feierlich beigesetzt. Im Gegensatz zu den Amerikanern verzichteten die Engländer auf den Rücktransport ihrer gefallenen Soldaten. Pilot Officer Jack Benson ist zusammen mit weiteren in der Schweiz gefallenen Angehörigen der Royal Air Force immer noch dort begraben. Einen Tag nach der Landung wurden Pilot Officer Smith und Flight Officer Medcalf zur Einvernahme nach Dübendorf gebracht. Alistair Crowley-Smith über diese Zeit: Wir wurden in den Offiziersräumen untergebracht und sehr zuvorkommend behandelt. Am Abend wurde jeder von uns einzeln in das Offizierskasino zur Einvernahme gebeten. Die erste Frage des Offiziers lautete: „Wir möchten gerne alles über das H2S-Radargerät wissen!“ Ich befand mich in einer ziemlich schwierigen Situation, wir wurden in England nie instruiert, wie wir uns bei der Internierung in neutralen Ländern verhalten sollten. Besser ich schwieg! Auch über meine Einheit, die Route und das Ziel machte ich keine Angaben. Der Vernehmungsoffizier nahm dies gelassen hin.

Die Überlebende Besatzung der über dem Sihlsee explodierten Lancaster beim Begräbnis ihres Bombenschützen Jack Benson in Vevey. Rechts vorne der Pilot Alistair Crowley-Smith. (105_1)

Die Überlebende Besatzung der über dem Sihlsee explodierten Lancaster beim Begräbnis ihres Bombenschützen Jack Benson in Vevey. Rechts vorne der Pilot Alistair Crowley-Smith. (105_1)

Pilot Officer Crowley-Smith und zwei weitere Angehörige der Royal Air Force wurden im Mai 1944 gegen in der Schweiz internierte deutsche Besatzungsmitglieder ausgetauscht. Alistair Crowley-Smith erinnert sich: In Basel wurden wir von einem Schweizer Offizier zum Badischen Bahnhof gebracht und in ein reserviertes Zugsabteil gesetzt. Der Offizier verabschiedete sich und verschwand. Wir warteten einige Zeit, dann wurde die Türe geöffnet und ein deutscher Offizier betrat unser Abteil. Er hielt eine lange Rede in Deutsch, wir verstanden natürlich kein Wort. Ein Korporal in verwahrloster Uniform übersetzte in bestes Englisch: „Der Hauptmann hat ihnen mitgeteilt, sie sollen sich als unsere Gäste fühlen. Lassen Sie uns wissen, falls Sie einen Wunsch haben. Nur eine Bitte unsererseits, lassen Sie Ihre Kamera im Gepäck. Die Reise nach Hause traten wir in Zivilkleidung an, und wir erhielten auch zivile Pässe. Unsere Reise ging zuerst nach Baden-Oos, wo wir in einen Regionalzug wechselten, welcher uns nach Baden-Baden brachte. Wir spazierten dort durch die Strassen, und unsere Begleitung lud uns zum Nachtessen ein. Danach kehrten wir wieder nach Baden-Oos zurück, um den Nachtzug nach Paris zu besteigen. Überall waren deutsche Soldaten zu sehen. Welch seltsames Gefühl! Nach unserer Ankunft in Paris wurden wir von einem Deutschen namens Wolfgang in Empfang genommen. Das überaus reichliche Frühstück nahmen wir im Bahnhofrestaurant ein, an einer Wand hing ein grosses Bild von Hitler.

Die Überlebenden der ND595 vom Sihlsee während ihrer Internierungszeit in Adelboden, im Frühling 1944. Hintere Reihe: Georges A. Beevers, Ronald B. Carr, Mitte: Eric Hiley, Georges J. A. Smith, Vorne: Basil T. Metcalf, Arthur Truscott. (105_2)

Die Überlebenden der ND595 vom Sihlsee während ihrer Internierungszeit in Adelboden, im Frühling 1944. Hintere Reihe: Georges A. Beevers, Ronald B. Carr, Mitte: Eric Hiley, Georges J. A. Smith, Vorne: Basil T. Metcalf, Arthur Truscott. (105_2)

Eine französische Serviertochter flüsterte uns zu: „Come quickly – the French are waiting for you!“ Wir erhielten alle gemischten Salat, doch im Teller des Hauptmanns wälzte sich eine riesige schwarze Schnecke. Ein nettes Stück von Sabotage der Franzosen? Am Abend wurden wir in den Schnellzug nach Bordeaux und Hendaye verfrachtet. Wieder reisten wir durch die Nacht, und schliesslich erreichten wir den Grenzübergang von Hendaye, wo wir uns von unserer deutschen Begleitung verabschiedeten. Über San Sebastian und Madrid erreichten wir schliesslich Cordoba und La Linea, wo wir dann per Schiff nach Gibraltar übersetzten. An Bord einer B.O.A.C.-Dakota erreichten wir England und wurden sofort zu einer eingehenden Vernehmung nach London gebracht. Dieser Austausch war nur eine von vielen ähnlichen Aktionen, welche zwischen den kriegführenden Parteien ausgehandelt wurden, um in der Schweiz internierte Flieger wieder in ihre Heimatländer zurückzuführen.


Ereignissdatum 26.2.1944
Ereignisszeit 01.07
Ort Sihlsee
Kanton SZ
Ereignis Absturz
Nation England
Flugzeugart Bomber
Flugzeugtyp Avro Lancaster Mk.III
Flugzeugbezeichnung Avro Lancaster Mk.III
Einteilung No. 100 Squadron
Basis Grimsby, Lincolnshire (GB)
Auftrag Bombardierung
Einsatzziel Augsburg (DE)
Werknummer ND595
Kennzeichen HW-V
CH Archiv Nr. E005
Besatzung Pilot: George James Alistair Smith, P/O
Navigator: Basil T. Metcalf, P/O
Engineer: G. Andrew Beevers, Sgt
Radio: Erich Hiley, Sgt
Bombardier, Herbert John Benson, P/O, im Kampf gestorben
Gunner: Arthur Truscott, Sgt
Gunner: Ronald B. Carr, F/S
Quelle Fremde Flugzeuge in der Schweiz
Autor Hans-Heiri Stapfer