Mit der Junkers auf der Flucht
Die Maschine mit der Gruppenkennung C9+A diente der Besatzung als Fluchtflugzeug von Lübeck nach Dübendorf. Das Flugzeug wurde im Oktober 1949 in der Schweiz verschrottet.
In den letzten Kriegstagen suchten zahlreiche deutsche Besatzungen Zuflucht in der Schweiz, um sich damit der drohenden Gefangennahme durch die Alliierten zu entziehen. In den frühen Morgenstunden des 30. April 1945, wenige Stunden, bevor Hitler im Bunker der Reichskanzlei in Berlin seinem Leben ein Ende setzte, erhielt Dübendorf unerwarteten Besuch durch einen mit modernster Radartechnik vollgestopften Nachtjäger. Der nachfolgende Rapport beleuchtet die abenteuerliche Flucht der Junkers Ju 88G-6 und ihrer Besatzung von Lübeck über das ganze Reichsgebiet hinweg in die rettende Insel im Herzen Europas. April 1945 – das Ende des „Tausendjährigen Reiches“ war zu erahnen. Ausgebombte deutsche Städte, zerstörte Nachschublinien und ein zerschlagenes Kommunikationsnetz liessen die Kampfmoral bei vielen deutschen Einheiten wie Schnee an der Sonne schmelzen. Die Landungen von deutschen Flugzeugen in der Schweiz bekamen im letzten Kriegsjahr einen völlig neuen Charakter. Waren bis Ende 1944 praktisch ausnahmslos irrtümliche Einflüge von Flugzeugen der Achsenmächte aufgrund von Navigationsfehlern zu verzeichnen gewesen, suchten wenige Wochen vor Kriegsende deutsche Besatzungen bewusst Zuflucht in der Schweiz, um sich damit der Gefangennahme zu entziehen. Der Monat April war auch für die Fliegertruppe von grösster Hektik gekennzeichnet. Nicht weniger als 85 Jagdpatrouillen wurden gegen fremde Flugzeuge eingesetzt, allerdings ohne grossen Erfolg, da die Mehrzahl der Grenzverletzungen von sehr kurzer Dauer war. Der Meldedienst registrierte nicht weniger als 650 Überflüge durch Maschinen beider Kriegsparteien. Die Lage in Norddeutschland gestaltete sich für die Luftwaffen-Einheiten zunehmend aussichtsloser. Die britische 2. Armee stiess auf breiter Front unwiderstehlich gegen Hamburg vor.
Am 26. April 1945 wurde Bremen von den Briten eingenommen, zwei Tage später bildete die 2. Armee bei Lauenberg einen Brückenkopf über die Elbe. Das Nachtjägergeschwader 5, welches seit Anfang März 1945 unter Führung von Major Rudolf Schönert stand, war sich bald einmal seiner aussichtslosen Lage bewusst, nachdem die Briten drauf und dran waren, Schleswig-Holstein einzunehmen. Ende April standen Teile des NJG 5 auf Plätzen in Norddeutschland und Dänemark im Einsatz. Ab Frühjahr mussten viele Nachtjäger neben ihrer angestammten Aufgaben noch Nachteinsätze gegen Bodentruppen fliegen. Aus diesem Grunde erhielten mehrere Ju 88G-6 dieser Einheit unter den Tragflächen noch zwei zusätzliche Bombenschlösser. In den letzten Kriegstagen operierte die III. Gruppe des NJG 5 mit ihren Ju 88G-6 vom Fliegerhorst Lübeck-Blankensee in Norddeutschland aus. In der Nacht zum 30. April 1945 war für den Kommandanten der 8. Staffel des NJG 5, Hauptmann Hopf, jeder weitere Widerstand zwecklos geworden. Zusammen mit Oberleutnant Dressler, ebenfalls von der 8. Staffel, sowie Oberleutnant Erhard von der 10. Staffel des NJG 11 traf er die Vorbereitungen zur Flucht in die neutrale Schweiz. Oberleutnant Erhard hatte früher ebenfalls zur 8. Staffel des NJG 5 gehört, wurde dann aber zum „Kommando Welter“ versetzt, jener Einheit also, welche mit der Messerschmitt Me 262 B-1a/U1 noch recht erfolgreiche Nachteinsätze, meist gegen britische Mosquitos, flog. Anfänglich in Burg bei Magdeburg stationiert, dislozierte das „Kommando Welter“ kurz vor Kriegsende nach Schleswig. Nachdem die Maschine bis zum letzten Tropfen vollgetankt worden war, stiegen neben der hochkarätigen Besatzung noch die beiden Ehefrauen von Hopf und Erhard sowie die sechsjährige Tochter des Staffelkommandanten an Bord.
Die Odyssee konnte beginnen. Um 1.30 Uhr erfolgte dann in Lübeck-Blankensee der Start zu einer langen und äusserst riskanten Reise über das gesamte Reichsgebiet, welches zu jener Zeit schon grösstenteils von den Alliierten besetzt worden war. Lediglich Teile von Bayern, der „Ostmark“ sowie der Tschechoslowakei waren noch unter der Kontrolle der Wehrmacht. Die Luftüberlegenheit hatten die USAAF und die Royal Air Force schon vor Monaten an sich gerissen. Neben der gegnerischen Flugabwehr stellten die Mosquitos und die Black Widows, welche mit Vorliebe den deutschen Nachtjägern auflauerten, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Junkers-Besatzung dar. Die als Nachtjäger konzipierte Ju 88 G-6 wurde von zwei Junkers Jumo 213A mit einer Startleistung von je 1750PS (1304kW) angetrieben, die eine bedeutende Leistungssteigerung gegenüber den BMW 801-Triebwerken der Vorgängermuster darstellten. So erreichte diese Version auf einer Höhe von 6000m eine Geschwindigkeit von 540km/h, was genügte, um den schwerfälligen Lancaster und Halifax-Bombern auf den Leib rücken zu können. Die ersten im Junkerswerk Bernburg gebauten Ju 88 G-6 erreichten Ende 1944 die Nachtjagdeinheiten. Diese Flugzeuge waren mit dem Radargerät Telefunken FuG-220SN-2 bestückt, welches aber den Alliierten am 13. Juli 1944 nach der Landung einer Ju 88 G-1 im britischen Woodridge sein Geheimnis preisgegeben hatte. In der Folge arbeiteten die Deutschen an verbesserten Geräten, welche dem Gegner noch nicht bekannt waren. So kam in den letzten Kriegsmonaten vermehrt das parallel zum FuG-220 entwickelte Siemens FuG-218 V/R „Neptun“ zum Einsatz. Das Siemens-Funkmessgerät hatte den Vorteil, dass es von den Alliierten noch nicht massiv gestört werden konnte, da es in einem Wellenbereich von 1,9 – 2,5 m arbeitete. Die Reichweite betrug zwischen 120 und 5000m.
Erstmals war es beim FuG-218 V/R auch möglich, im Flug die Frequenzen zu wechseln. Bis Kriegsende wurden nur etwa 45 Geräte ausgeliefert und vorwiegend in die Ju 88 von erfahrenen Nachtjagdspezialisten eingebaut. Nicht weniger als 2518 Ju 88-Nachtjäger der verschiedensten Versionen verliessen im Jahre 1944 die Werkhallen. Am 1. April 1945 waren gerade noch 350 Ju 88 als einsatzfähig gemeldet. Bis zum Kriegsende schmolz ihre Zahl auf eine Handvoll zusammen. Die Ju 88 G-6 mit der Werknummer 623 211 wurde erst im Januar 1945 von der deutschen Luftwaffe übernommen. Die Gruppenkennung C9+AR deutete darauf hin, dass der Nachtjäger der 7. Staffel des NJG 5 zugeteilt worden war. Der Buchstabe „A“ ist ein Indiz dafür, dass diese Ju 88 G-6 dem Kommandanten der 7. Staffel zugeteilt worden war. Die Ju 88 verfügte über ein Radar FuG-218 V/R „Neptun“. Daneben befand sich auch das FuG-217R sowie das FuG-15 für die Freund-Feind-Erkennung an Bord. Das FuG-10 diente für den Sprechfunk, während das FuG-6 für die Funkpeilung und das FuG-101 für die Funkhöhenmessung Verwendung fanden. Für Nachtschlachteinsätze gegen feindliche Bodentruppen war die Ju 88 G-6 C9+AR auch mit zwei ETC-Bombenschlössern ausgerüstet. Die Bewaffnung bestand aus vier in einer Gondel unter dem Rumpf angebrachten 20mm-MG 151-Kanonen sowie der sogenannten „schrägen Musik“, bestehend aus zwei im hinteren Rumpfraum nach oben feuernden MG 151. Im B-Stand war für Defensivaufgaben noch ein zusätzliches MG 131 montiert. Nach der Ankunft beim NJG 5 erhielt die C9+AR statt der im Werk angebrachten grauweissen Oberseitentarnung ein neues Kleid, wie es für Nachtschlachtflugzeuge zu jener Zeit durchaus üblich war. Der Sichtschutz bestand aus einer moosgrün und olivgrün gefleckten Oberseitentarnung sowie hellblauen Unterseiten.
Die VS-111-Propeller mit den Spinnern waren schwarzgrün gehalten. Die Balkenkreuze auf den Tragflächen und dem Rumpf waren schwarz aufschabloniert, genauso wie die Geschwaderkennung C9+AR und das Hakenkreuz. Sie hoben sich in der Folge kaum von der Oberflächentarnung ab. Nach einem beinahe vierstündigen Flug über das Reichsgebiet erreichte die kriegsmüde Besatzung unbehelligt von alliierten Nachtjägern endlich die rettende Schweiz. Da keine Atemmasken an Bord waren, musste – auch aus Rücksicht auf die weiblichen Passagiere – in relativ niedriger Höhe geflogen werden. Mit lediglich 400 Litern Treibstoff in den Tanks gelang Hauptmann Hopf um 5.15 Uhr eine glatte Landung in Dübendorf. Eine mehr als 1300 km lange Odyssee war damit glücklich zu Ende gegangen. Kurz nach der Landung wurde die Besatzung einer intensiven Einvernahme durch den Schweizer Nachrichtendienst unterzogen. Von den Pistolen abgesehen, befanden sich keinerlei persönliche Effekten an Bord. Die beiden Frauen, eine davon schwanger, sowie das Mädchen wurden der Obhut des Roten Kreuzes übergeben. Bei der Landung waren noch 919 Stück 20mm, sowie 246 Stück 13mm-Munition vorhanden. Dass keine leeren Patronenhülsen an Bord gefunden wurden, konnte als Indiz gewertet werden, dass die Besatzung während ihrer langen Reise in keinerlei Feindkontakt involviert worden war. Der praktisch fabrikneue Nachtjäger mit seiner hochgeheimen Radaranlage bildete für die Spezialisten der Fliegertruppe eine willkommene Gelegenheit, um sich ein Bild vom Stand der modernen Funkmess-Technologie zu machen, welche ja in der Schweiz zu jener Zeit in den Kinderschuhen steckte. Das FuG-218 „Neptun“ sowie die den Eidgenossen unbekannten Geräte waren natürlich Bestandteil ausgedehnter Untersuchungen durch die Fliegertruppe sowie durch Spezialisten der Eidgenössischen Technischen Hochschule, welche sich bis über das Kriegsende hinweg zogen. Die „Schräge Musik“, von der Funktionsweise her von Oberleutnant Johnens Messerschmitt Bf 110 bekannt, stiess dennoch auf Interesse, da diese Waffenanordnung in der Ju 88 für die Schweizer Techniker bis dahin unbekannt war.
Im Sommer 1945 unterzog die Fliegertruppe die Ju 88G-6 einer kosmetischen Schönheitsoperation. So wurden das Stammkennzeichen sowie das Balkenkreuz auf dem Rumpf weiss übermalt, auch das Hakenkreuz erhielt einen weissen Anstrich, zusätzlich wurde an der Seitenleitwerks-Oberseite noch die Werknummer 623 211 aufschabloniert, welche ja bei der Landung nicht angebracht war. Beim NJG 5 ist der Nachtjäger zu keiner Zeit in dieser farbenfrohen Kriegsbemalung geflogen, da die Luftwaffe in den letzten Kriegswochen jede Art von auffälliger Bemalung tunlichst vermied. Die ihrer Antennenanlage für das FuG-218 „Neptun“ beraubte Junkers Ju 88 bildete dann bei Flugschauen in Dübendorf einen echten Publikumsmagneten, da die Besucher nun mit dem einst so geheimen Nachtjäger auf Tuchfühlung gehen konnten. Nach Kriegsende war das internierte deutsche Flugmaterial rechtlich Eigentum der Alliierten geworden und hätte auch an die Siegermächte übergeben werden müssen, falls diese es gewünscht hätten. Bis zum Ende des bürokratischen Tauziehens verblieb die Ju 88 zusammen mit der Do 217 und dem Bf 110-Nachtjäger in Dübendorf.
Alle drei Maschinen erhielten während ihrer Standzeit Schweizer Kennzeichen, jedoch keine Immatrikulationen der Fliegertruppe. Erst gegen Ende des Jahres 1947 bekundete die alliierte Kontrollkommission kein Interesse mehr an der Ju 88, da die Siegermächte selbst umfangreiche Beute gemacht hatten. Die abgestellten Flugzeuge waren allerdings nach Kriegsende Bestandteil nicht unerheblicher Untersuchungen, da mehrmals Instrumente und Bestandteile aus den Maschinen entwendet worden waren. Dieses Problem löste sich erst im Frühherbst 1949, als alle drei deutschen Nachtjäger dem Schneidbrenner zum Opfer fielen. Kurze Zeit vorher wurde die Ju 88 am 25. September 1949 nochmals während einer Flugschau der Öffentlichkeit gezeigt. Von der Maschine ist lediglich das rechte Jumo-Triebwerk mit der Werknummer 1111524-236-G-1 im Museum der Schweizerischen Fliegertruppe in Dübendorf erhalten geblieben.
Ereignissdatum | 30.4.1945 |
Ereignisszeit | 05.15 |
Ort | Dübendorf |
Kanton | ZH |
Ereignis | Landung |
Nation | Deutschland |
Flugzeugart | Bomber |
Flugzeugtyp | Junkers Ju 88 |
Flugzeugbezeichnung | Junkers Ju 88 G-6 |
Einteilung | 7. Staffel, Nachtjagdgeschwader 5 |
Basis | Lübeck (D) |
Rückkehr | in der Schweiz verschrottet |
Werknummer | 623211 |
Kennzeichen | C9+A |
CH Archiv Nr. | D057 |
Besatzung | Pilot: Werner Hopf, Hauptmann, und seine Ehefrau Besatzung: Herr Dressler, Oberleutnant Besatzung: Herr Erhard, Oberleutnant, und seine Ehefrau sowie seine Tochter |
Quelle | Fremde Flugzeuge in der Schweiz |
Autor | Theo Wilhelm |