Ein tragischer Zwischenfall
Der Bomber mit dem Kennzeichen 78 und dem Übernamen „Maiden America“ ist nach einem Einsatz über Innsbruck bei Würenlingen abgestürzt und in der Schweiz verschrottet worden.
27 amerikanische Bomber des Typs B-24 Liberator der 450th Bombardment Group (H) der 15th US Army Air Force hoben am Weihnachtsmorgen 1944 von ihrer Basis im süditalienischen Manduria ab. Unter ihnen befand sich „Maiden America“ mit der Werknummer 42-78356. Der Pilot, 1st Lieutenant Vincent Fagan, und seine achtköpfige Crew konnten nicht ahnen, dass dieser 25. Dezember zu ihrem Schicksalstag werden sollte. Bei besten Wetterverhältnissen führte Fagans Kampfeinsatz wie üblich über die Adria nordwärts in Richtung Alpen. Den Brennerpass überflogen die Maschinen in rund 9’000 Metern Höhe. Ziel der Mission Number 200 war ein Güterbahnhof im Westen von Innsbruck. Seit diesem Ereignis sind viele Jahre und Tage vergangen und es wurde viel über das Schicksal der „Maiden America“ geschrieben, erzählt und spekuliert. Nicht alles davon hält einer Überprüfung stand und einiges bleibt nach wie vor ungeklärt. Hier die Geschichte, wie man sie aufgrund des heutigen Wissenstands nachvollziehen kann.
Der Anflug auf das Zielgebiet verlief zunächst planmässig. Plötzlich, kurz vor dem Erreichen von Innsbruck, geriet die Bomberformation jedoch unter heftigen Flak-Beschuss der deutschen Wehrmacht. „Maiden America“ wurde so schwer getroffen, dass der Pilot die Position in der Angriffsformation nicht mehr halten konnte. Der nach dem Einsatz ausgestellte Missing Air Crew Report (M.A.C.R.) hielt fest, das Flugzeug sei zum letzten Mal bei den Koordinaten 470 15‘ Nord und 11o 22‘ Ost, etwas südlich von Innsbruck, gesehen worden. Das weitere Schicksal von Flugzeug und Besatzung war nicht bekannt. 1st Lt. Vincent Fagan (Pilot), 2nd Lt. Nichlas MacKoul (Co-Pilot), 2nd Lt. Homistek Martin (Navigator), die Sergeants James Estes, Vernon Leitch, Thomas Owen, Claud Hunt, Herbert Spencer und Ralph Coulson galten als vermisst. Aber die „Maiden America“ war nicht abgestürzt. Mit grösster Mühe gelang es Fagan und seinem Co-Piloten den spiralförmigen Sturzflug abzufangen und die Fluglage wieder zu stabilisieren. Die Situation war ernst: Die stark beschädigte Maschine hatte viel an Höhe verloren und zahlreiche Instrumente sowie der Funk waren ausgefallen. Treibstoff spritzte aus geborstenen Leitungen. Gleich beide Motoren auf der linken Seite waren zerstört, wobei deren unkontrolliert drehende Propeller erheblichen Luftwiderstand verursachten.
Lieutnant Fagan befahl seiner Crew, sich auf einen Absprung vorzubereiten. Sollte jetzt noch ein deutsches Jagdflugzeug auftauchen, blieb nur noch der Ausstieg. Doch das geschah zum Glück nicht und es galt nun, die verbleibenden Optionen abzuwägen. Da der Zustand der Maschine keine Überquerung der Alpen und eine Rückkehr auf die Heimatbasis mehr zuliess, blieb einzig eine Notlandung in der neutralen Schweiz. Da sich jedoch keine entsprechenden Karten an Bord befanden und der Kompass beschädigt war, liess sich keine genaue Route dorthin planen. Anhand der grossmassstäblichen Karte aus einem der Notfallsets entschied sich Fagan für einen Westkurs. Er holte alles aus den verbleibenden zwei Motoren heraus und schaffte es damit, die Sinkrate etwas zu vermindern. Um die gefährlich langsam fliegende Maschine leichter zu machen, warf die Besatzung zudem alles von Bord, was als nicht mehr nötig erachtet wurde. Die Abwehrwaffen blieben jedoch montiert. Wenig später überflog „Maiden America“ auf etwas über 4000 Metern den Bodensee und trat im Bereich von Altnau in den Schweizer Luftraum ein. Da sich das Flugzeug besser hielt als erwartet war bei der Besatzung die Hoffnung aufgekeimt, die Schweiz in Richtung des befreiten Teils von Frankreichs zu überfliegen, und dort auf einem amerikanischen Flugfeld zu landen. Man überflog Pfyn und Andelfingen in Richtung Westen, sah dann aber bald, dass sich im Raum Basel dichte und tiefhängende Wolken befanden. Die Hoffnung Frankreich zu erreichen hatte sich zerschlagen und das Flugzeug war mittlerweile auf 3’000 Meter abgesunken. Die einzige noch verbleibende Chance war nun einen Flugplatz in der Nähe der südlich gelegenen Stadt Zürich zu erreichen. Fagan wusste nur, dass es da irgendwo einen Flugplatz geben musste, jedoch nicht wo er genau lag.
Als die „Maiden America“ Baldingen überflog, geriet sie in die Fadenkreuze der Schweizer Fliegerabwehr. Das Flab Det 89, welches auf der „Spornegg“ stationiert war, hatte Schiessbefehl und führte diesen auch aus. Das Feuer der 7,5 cm Geschütze lag jedoch schlecht und die Granaten explodierten weit entfernt von dem nun langsam in eine Rechtskurve eindrehenden Flugzeug. Die Explosionen wurden von der Besatzung nicht einmal bemerkt und so ist es nicht erstaunlich, dass Fagan die Kurve weiterflog. In der Gegend von Koblenz kam das Flugzeug wieder auf deutsches Gebiet. Dort wurde es kurz vor dem erneuten Überfliegen der Schweizer Grenze bei Zurzach von der deutschen Flak beschossen. Doch dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein Augenzeuge aus Rietheim berichtete, dass die schwarzen Explosionswolken der deutschen Flak plötzlich durch weisse der Schweizer Flab abgelöst wurden – die „Maiden America“ flog zum zweiten Mal direkt auf die Fliegerabwehrgeschütze bei Baldingen zu, welche wohl vermuten musste, dass sie nun angegriffen würde. Die Flughöhe der B-24 hatte sich weiter verringert und somit bot der langsam fliegende Bomber ein leichtes Ziel. Als Fagan die Explosionen bemerkte, wollte er zum Zeichen der Kapitulation das Fahrwerk ausfahren. Aber es ging nicht. Die Hydraulikleitungen waren bereits über Innsbruck zerstört worden. Ein „Wackeln mit den Flügeln“ war aufgrund der schwierigen Lage des Flugzeuges ebenfalls nicht möglich und das Abschiessen von Leuchtraketen schloss Fagan aus – zu gross wäre die Gefahr einer Explosion bedingt durch den auslaufenden Treibstoff gewesen. Die Schweizer Flab schoss nun immer genauer. Fagan zählte vier Einschläge in seine Maschine, einer davon riss eines der Triebwerke ab. Er befürchtete, dass der nächste Treffer das Ende der schwer beschädigten Maschine bedeuten würde. Er gab der Mannschaft den Befehl zum Abspringen während das Flugzeug in einer Rechtskurve in nur noch etwa 1700 Metern Höhe über den Siggenberg bei Untersiggenthal zog. In der Gegend von Stilli sprang die Mannschaft ab, während die Flab weiter schoss. Fagan hatte noch versucht, die Lage des Flugzeuges, welches nun direkt auf Würenlingen zu hielt zu stabilisieren, damit das „Bail out“ leichter vonstattengehen konnte. Dazu hatte er den äusseren der beiden verbleibenden Motoren abgestellt und den inneren dafür voll hochgefahren. Augenzeugen sahen sieben Fallschirme aufgehen und zu Boden schweben, während das Flugzeug, eine Rauchfahne hinter sich herziehend, weiter auf Würenlingen zuhielt und rasch an Höhe verlor. Vincent Fagan erinnerte sich später, dass der Fallschirmabsprung das einzig Positive an dieser Mission war: „Kein Lärm, keine Vibrationen, nur absolute Ruhe und Frieden.“
Die brennende Maschine flog rasch sinkend weiter, kam noch über Würenlingen hinweg und zerschellte dann auf dem Ruckfeld, nordöstlich des Dorfes in der Nähe vom Bollhözli. Das Flugzeug wurde beim Aufprall komplett zerstört und die Motoren bohrten sich tief in den gefrorenen Boden. Wie durch ein Wunder kam die Bevölkerung von Würenlingen mit dem Leben davon. Wäre das Flugzeug nur etwas früher abgestürzt, wäre es wahrscheinlich direkt im Dorf eingeschlagen und hätte unter Umständen viele Menschen verletzt oder gar getötet. Aber nicht alle hatten Glück. 2nd Lieutenant Nicola Mackoul war an der rechten Schulter verletzt und wurde vom Wind abgetrieben und landete in der eiskalten Aare. Zwei Tage später wurde seine Leiche beim Kraftwerk Beznau aus dem Wasser gezogen. Die Schwimmweste hatte er zwar an, sie war jedoch nicht aufgeblasen. Der Navigator, Martin Homistek hatte ebenfalls grosses Pech, denn sein vermutlich zu früh ausgelöster Fallschirm verfing sich am Flugzeug und so wurde er mit in die Tiefe gerissen und kam ums Leben. Es war Homisteks zweite Mission und er war gerade 18 Jahre alt. Der Bordschütze Ralph Coulsen sprang gar nicht erst ab. Warum er nicht sprang, konnte nie geklärt werden, aber er hatte zuvor den Kameraden gesagt, er werde im Flugzeug bleiben. Seine Leiche fand man im völlig zerstörten Flugzeugwrack mit einem sauber verpackten Fallschirm.
Heute erinnert eine schlichte Gedenkstätte auf dem Ruckfeld bei Würenlingen an die dramatischen Ereignisse von damals. In Stein gemeisselt stehen auch die Namen der drei Besatzungsmitglieder, welche beim Absturz ihr Leben liessen. 1989, zum fünfzigsten Jahrestag des Abschusses der „Maiden America“, besuchte Vincent Fagan mit seiner Frau Rose die Schweiz und auch die Absturzstelle. Er erwähnte, dass ihn der Abschuss durch die Schweizer Fliegerabwehr an der Neutralität des Landes habe zweifeln lassen, als er einige Blumen für die drei ums Leben gekommenen Kameraden beim Denkmal niederlegte. Heinrich Speich, der damals die Fliegerabwehrkanonen von Baldingen kommandierte, war bei dieser Gelegenheit mit einigen weiteren Veteranen des Flab Det 98 ebenfalls in Würenlingen. Er erklärte, sie hätten auf ein Zeichen des Flugzeuges gewartet hätten, welches ihnen bestätigte, dass es nicht in feindlicher Absicht kommen würde – jedoch sei so ein Zeichen nie gekommen. Erst 50 Jahre später erfuhr nun Speich von Fagan, dass die Besatzung des Bombers gar nicht mehr in der Lage war, so ein Zeichen zu geben – zur Versöhnung reichte man sich an der Stelle wo das Drama sein Ende nahm die Hände.
Das Ereignis ist nun viele Jahre her. Viele Fragen dazu konnten in der Zwischenzeit beantwortet werden – so zum Beispiel, ist es äusserst unrealistisch, dass der Navigator sein Leben opferte um das Flugzeug noch über das Dorf Würenlingen hinwegzuziehen. Offensichtlich ist da auch ein Fehler in den Schweizer Akten. Während diese festhalten, der Navigator sei im Flugzeug verblieben ist, sagen die überlebenden Besatzungsmitglieder im M.A.C.R. übereinstimmend aus, dass der Navigator abgesprungen, jedoch der Seitenschütze Sgt. Coulson im Flugzeug geblieben sei. Es bleiben aber auch Fragen offen. Während und auch nach dem Krieg hat sich die offizielle Schweiz auf die „unbedingte Neutralität“ berufen und damit den Abschuss des Flugzeuges begründet. Schon 1944 gab es Leute die sich nicht erklären konnten, warum man auf ein Flugzeug der USA schoss, welches alles daran setzte auch die Schweiz von der Bedrohung des Nazi-Regimes in Deutschland zu befreien. Aber es war damals immer noch Krieg und nicht die Zeit, um solche Fragen offen zu diskutieren. Diese Zeit kam erst in den 1990er-Jahren. Da schlug das Pendel dann in die ganz andere Richtung und man begann den Leuten einzureden, die Schweiz hätte während des Zweiten Weltkriegs eine grosse Schuld auf sich geladen.
Wahrscheinlich treffen beide Extreme die Wahrheit nicht. Während man im Zweiten Weltkrieg der Bevölkerung viele Informationen vorenthielt, ist es heute leider so, dass man manchmal genau die Akten aus den Archiven zieht, welche eine vorgefasste Meinung untermauern und damit suggeriert, alles sei einwandfrei belegt. Dass man in einem Krieg mit Informationen nicht frei umgehen kann und diese sogar manipuliert ist verständlich. Wenn das aber Jahrzehnte nachher immer noch gemacht wird, dann ist es weit schwieriger nachzuvollziehen. Was bleibt ist die Frage, warum die Schweizer Flab so kurz vor dem Ende des Krieges den tief und einzeln fliegenden Bomber nun wirklich beschossen hat. War es nur, weil es einen Schiessbefehl gab und man nicht ausschliessen konnte, dass der Bomber feindliche Absichten hatte? Oder lässt sich der Vorwurf tatsächlich anbringen, man wollte die Amerikaner aktiv bekämpfen, weil man auf Seiten der Nazis stand? Wollte die Fliegerabwehr einfach kurz vor Kriegsende noch eine Trophäe schiessen?
Vielleicht kommt von allen Aspekten etwas hinzu. Es war ja nicht so, dass von einem amerikanischen Flugzeug keine Gefahr ausging. Schaffhausen wurde von den Amerikanern irrtümlich bombardiert. Es kam zu weiteren vereinzelten Bombenabwürfen und sogar zu Angriffen mit Bordwaffen. Was macht man als Kommandant einer Fliegerabwehreinheit, wenn ein fremder Bomber nach einer Kurve zum zweiten Mal auf einen zufliegt, der Bombenschacht offen steht, kein Zeichen kommt, welches auf eine friedliche Absicht hindeuten würde – und nur wenig Zeit bleibt, sich zu entscheiden? Wäre es den Flab-Soldaten überhaupt möglich gewesen, in der kurzen Zeit und auf die Distanz hin zu erkennen, dass das Flugzeug beschädigt war und nur noch zwei der vier Motoren liefen? Dass sich das Flugzeug eigentlich in höchster Not befand und man verzweifelt einen Landeplatz suchte?
Es ist heikel und schwierig, damalige Entscheidungen aus heutiger Optik erklären und beurteilen zu wollen. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass solche Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten und sich nicht wiederholen.
Quellen: BAR – Bundesarchiv Bern, „Liberator Pilot“ (Vincent Fagan, 1992), 450th Bombardment Group Association, M.A.C.R. 10896, Aargauer Tagblatt Ausgabe Dezember 1994, Google Earth Satellitenfoto
Ereignissdatum | 25.12.1944 |
Ort | Würenlingen |
Kanton | AG |
Ereignis | Absturz |
Nation | Amerika |
Flugzeugart | Bomber |
Flugzeugtyp | B-24 Liberator |
Flugzeugbezeichnung | B-24 G-16-NT |
Flugzeug-Spitzname | Maiden America |
Einteilung | 15th Air Force, 450th Bomb Group, 723rd Squadron |
Basis | Manduria (I) |
Auftrag | Bombardierung |
Einsatzziel | Versorgungsdepot Innsbruck (A) |
Rückkehr | in der Schweiz verschrottet |
Werknummer | 42-78356 |
Kennzeichen | 78 |
CH Archiv Nr. | A146 |
US MACR Nr. | 10896 |
Besatzung | Pilot: Vincent F. Fagan, 1st Lt Copilot: Nicholas Mac Koul, 2ndt Lt, im Kampf gestorben Navigator: Martin A. Homistek, 2nd Lt, im Kampf gestorben Nose Gunner: Thomas B. Owen, S/Sgt Engineer: James L. Estes, T/Sgt Radio: Vernon P. Leitsch, T/Sgt Right Waist: Claud W. Hunt, Sgt Left Waist: Ralph L. Coulson, Sgt, im Kampf gestorben Tail Gunner: Herbert R. Spencer, Jr., S/Sgt |
Quelle | Commemorative Air Force Swiss Wing / CONTACT Vol. 20 No. 76, Februar 2015 |
Autor | Kuno Gross |